Marinaressa Coral Tree

DFG SPP 2187 | Ausstellung "Time Space Existence" | Architekturbiennale Venedig | 2023

Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren, Prof. Lucio Blandini
Institut für Steuerungstechnik der Werkzeugmaschinen und Fertigungseinrichtungen, Prof. Alexander Verl

Stuttgarter Betonleichtbau auf der Architektur-Biennale in Venedig 

Der Marinaressa Coral Tree ist eine filigrane Betonstruktur, die zeigt, wie Innovationen bei Planung, Materialtechnologie und Fertigung zur nachhaltigen Transformation der Bauindustrie beitragen können. Das Bauwerk wurde für die vom Europäischen Kulturzentrum organisierte Ausstellung "Time Space Existence" im Rahmen der 18. Architekturbiennale (2023) in Venedig entworfen und gebaut. Der Prototyp entstand im Rahmen eines Forschungsprojekts zur nachhaltigen Herstellung leichter Betonbauteile mittels abfallfreier Sandschalungen. Die hier angewandte Technologie wurde gemeinsam vom Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren (ILEK) und dem Institut für Steuerungstechnik der Werkzeugmaschinen und Fertigungseinrichtungen (ISW) der Universität Stuttgart entwickelt und erprobt.

Betonleichtbau ohne Abfall

Prämisse des Projekts war es, die nachhaltige Entwicklung des Betonbaus hin zur CO2-Neutralität voranzutreiben. Hierzu wurden konkrete Entwurfs- und Produktionsszenarien für die Betonstrukturen der Zukunft erforscht. Leichtbauprinzipien können den Materialverbrauch und damit auch die Emissionen erheblich reduzieren - auch im Betonbau. Allerdings lassen sich die mit Leichtbauprinzipien einhergehenden komplexen Geometrien, wie beispielsweise mehrfach gekrümmte Flächen, bislang nur unter großem Arbeitsaufwand und Unmengen von entstehenden Abfällen herstellen. Eine "leichte" Lösung bei einer ganzheitlichen Betrachtung erfordert nicht nur eine drastische Reduktion der Menge an verbautem Material, sondern auch die Minimierung der Emissionen und des Abfalls in allen Phasen des Lebenszyklus‘, von der Herstellung bis zur Demontage und zur Wiederverwertung. Die Untersuchung entsprechender Wechselwirkungen zwischen innovativem Design und neuartigen Produktionsmethoden für den Entwurf und die Realisierung noch leichterer Konstruktionen sind deshalb wichtige Schwerpunkte dieser Forschung.

Im Mittelpunkt des Projekts steht die Entwicklung einer Produktionstechnologie zur abfallfreien Herstellung von komplex geformten Betonstrukturen unter Verwendung von rezyklierbaren Sandschalungen. Ermöglicht wird das durch eine Kombination von additiver Fertigung (3D-Druck in einem Pulverbett) und einer speziell entwickelten Mischung aus Sand und einem organischem wasserlöslichem Bindemittel. Speziell für das Projekt wurde ein 3D-Drucksystem mit einem Pulverbettvolumen von 70 cm ×100 cm x 40 cm entwickelt, das die Herstellung von Schalungskörpern ermöglicht. Dazu wird das in Pulverform vorliegende Bindemittel durch präzises Auftragen vieler winziger Wassertropfen aus einem adaptierten Tintenstrahl-Druckkopf aktiviert, wodurch der Sand selektiv „verklebt“ wird. Durch das anschließende Trocknen mit Infrarot-Strahlern verfestigt sich das Gemisch, sodass die Schalungen dem hydrostatischen Druck beim Betongießen standhalten. Da das Verfestigungsverfahren rein auf physikalischen Prozessen basiert, das heißt ohne den Ablauf chemischer Reaktionen, sind die Formen reversibel stabil und leicht in Wasser löslich, was die Herstellung und Ausschalung räumlich komplexer Strukturen ermöglicht und die vollständige Wiederverwendung des Sandes für nachfolgende Produktionszyklen gewährleistet.

Architekturdemonstrator

Um das Potenzial dieser Technologie bei der Herstellung leichter Betonstrukturen, vor allem Betonfertigteilen, zu beweisen, wurde ein architektonischer Demonstrator entworfen und realisiert, der auf dem Campus der Universität Stuttgart hergestellt und im Mai 2023 in den Marinaressa-Gärten in Venedig aufgebaut wurde. Die filigrane Konstruktion ist eine Neuinterpretation des traditionellen Übergangs von der Decke zur Stütze, bei dem die Lasten von der horizontalen Decke über das Kapitell auf die Säulen übertragen werden. Mit einer Höhe von 3,2 m und einer Fläche von 2,7 x 2,7m wurde das Bauwerk als modulares System konzipiert, bestehend aus insgesamt 9 Segmenten, die durch Stahlimplantate miteinander verbunden sind. Durch die statische Optimierung unter der Berücksichtigung von Produktionsparametern konnte der Materialverbrauch bei gleicher Tragfähigkeit um 60 % reduziert werden. Dies wurde erreicht, indem das Material entsprechend den Spannungen verteilt wurde, die unter den vorgegebenen Belastungen auftreten. Hieraus resultierte die räumliche Gitterstruktur, die sich an den drei Hauptspannungstrajektorien im Raum orientiert.

Alle Betonmodule wurden mit wasserlöslichen Schalungen hergestellt, die zusätzlich unterteilt wurden, um den Abmessungen des Pulverbettes zu entsprechen. Zunächst wurden die Schalungssegmente für die oberen Deckenmodule 3D-gedruckt, zusammengesetzt und abgedichtet. Vor der Betonage wurde dann noch eine Carbonfaserbewehrung eingelegt. Die Bewehrung folgt im oberen Bereich den Zugspannungstrajektorien. Um die Qualität des Gusses für solch komplexe Strukturen zu gewährleisten, wurde der selbstverdichtende, hochfeste Vergussmörtel SikaGrout®-551 mit einer Korngröße von 1 mm verwendet. Nach dem Aushärten wurden die Module zu einer Waschstation transportiert und durch das Abspritzen mit Wasser ausgeschalt. Das so gewonnene Sandgemisch wurde anschließend vom Restwasser getrennt und getrocknet. Anschließend wurde es zerkleinert und konnte so in den folgenden Produktionszyklen wiederverwendet zu werden, u. a. für die Schalung der Kapitell- und Säulenmodule.

In Anbetracht der Umweltauswirkungen der Bauindustrie sind ganzheitliche Leichtbauprinzipien, die zu einer Minimierung von Ressourcen, Emissionen und Abfällen führen, von größter Bedeutung für den nachhaltigen Betonbau. Um den ökologischen Fußabdruck eines Bauwerks richtig beurteilen zu können, sollten die durch Leichtbau eingesparten grauen Emissionen jedoch immer auch mit denen verglichen werden, die in den anderen Phasen des Lebenszyklus auftreten. Die Herstellung hat dabei einen erheblichen Anteil. Ein weiteres Potenzial zur Fußabdruck-Reduzierung wird in dem erhöhten CO2-Sequestrierungspotenzial von leichten Betonstrukturen aufgrund ihrer geometrischen Eigenschaften gesehen. Während das Volumen der Struktur reduziert wird, erhöht sich das Verhältnis von Oberfläche zu Volumen um den Faktor 5 und mehr. In Verbindung mit den filigranen Querschnitten der einzelnen Streben könnte dies im Laufe der Zeit zu einer vollständigen Karbonatisierung der Struktur führen. Um diese Aussage vollständig zu beweisen, werden derzeit von den beteiligten Institutionen mehrere Versuchsreihen durchgeführt.

Quelle: YouTube

PROJEKTPARTNER
Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren (ILEK), Universität Stuttgart, Prof. Dr.-Ing. Lucio Blandini
Institut für Steuerungstechnik der Werkzeugmaschinen und Fertigungseinrichtungen (ISW), Universität Stuttgart, Prof. Dr.-Ing Alexander Verl

WISSENSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG
Daria Kovaleva, Maximilian Nistler

UNTERSTÜTZUNG BEI DER UMSETZUNG
Lennon Toeche-Mittler, Justus Schwörer, Ali Moradi und Materialprüfungsanstalt Universität Stuttgart

STATISCHE NACHWEISE
Oliver Gericke und Ivan Tomovic, Werner Sobek AG, Stuttgart

SPONSOREN
Das Projekt wurde durch Sika Deutschland GmbH, Fachverband Beton- und Fertigteilwerke Baden-Württemberg e.V., InformationsZentrum Beton GmbH, Industrieverband Steine und Erden Baden-Württemberg e.V., Bauwirtschaft Baden-Württemberg e.V., Solid UNIT Baden-Württemberg unterstützt.

FÖRDERUNG
Die Forschung zur Entwicklung abfallfreier Sandschalungen für leichte Betonbauteile wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen des SPP 2187: Adaptive Modulbauweisen mit Fließfertigungsmethoden (Projektnummer 423987937) gefördert. 

Dieses Bild zeigt Daria Kovaleva

Daria Kovaleva

Dipl.-Arch.

Wissenschaftliche Mitarbeiterin

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